Am 1. Juni waren wir gegen 15 Uhr auf dem Taksim Platz. Durch die Zusammenstöße, die am Morgen begannen, war die Polizei gezwungen, die Gegend zu verlassen. Zwei Stunden lang gab es keine Polizeipräsenz im gesamten Kerngebiet der Stadt. Die Leute besetzen indessen den Taksim Platz und den Gezi Park. Die Menschenmenge war riesig. Der gesamte Park, alle Plätze und Straßen, die zu diesem Gebiet führten, waren voller Leute. Alle Bauabsperrungen, die die Westseite des Parks absperrten, wurden durch die Protestierenden zerstört. Einige Polizeiabsperrungen wurden entfernt und auf die Straße geworfen. Neue Barrikaden wurden auf der Mumcu Bakka und Süleyman Seba Straße errichtet, um die Polizeikräfte daran zu hintern den Çarşı zu betreten, (Basar von Istanbul, wo viele Leute „abhängen.“ ) Als die Angriffe auf sie verstärkt wurden, benutzte die Polizei auch Plastikgeschosse. Die Auseinandersetzungen gingen bis ungefähr 1.30 Uhr in der Nacht weiter. Zum Schluss setze die Polizei eine exzessive Menge von Tränengasgranaten ein, um die Menge zu zerstreuen. Als Folge verließen die Leute die Barrikaden und suchten Schutz in den umliegenden Geschäften, oder gruppierten sie in den inneren Straße von Beşiktaş wieder neu.
Gleichzeitig errichteten Widerständige in Taksim die ganze Nacht riesige Barrikaden auf den Straßen und Wegen um den Platz und den Gezi Park. Außerdem zündeten sie Baufahrzeuge an. Busse, Autos, Baumaterialien, Polizeiabsperrungen, Müllcontainer usw. wurden als Barrikaden genutzt.
Auf den Plätzen in Istanbul, wo wir gewesen sind, überlegten viele DemonstrantInnen aus Angst vor möglicher Medienmanipulation zweimal, bevor sie kapitalistische Ziele um sie herum zerstörten. Neben Überwachungskameras, die sabotiert wurden, sahen wir nur einen zerstörten Geldautomaten. Wir nutzen verschiedene Autos als Barrikaden, zerstören sie aber nicht (jedenfalls nicht aus Absicht) So waren hauptsächlich die Bullen das Ziel dieser Kämpfe. Aber aus İzmir beispielsweise wissen wir das Protestierende u.a. eine Bank und das Starbucks angegriffen.
Häufig leiteten Polizisten viele Einzelpersonen in Straßen, in die sie nicht gehen sollten, und nahmen sie dort fest. Alleine an diesem Tag, insbesondere in Istanbul sollen all die Personen, die in Taksim und Beşiktaş verhaftet wurden, entlassen werden. Fast 80 von ihnen wurden ins Gerichtsgebäude gebracht und durch die Staatsanwaltschaft freigelassen, während fast einhundert entlassen wurde, ohne vor dem Staatsanwalt gestanden zu haben.
Massenmedien zufolge waren am 2. Juni um 14:30Uhr circa 30.000 Menschen am Taksim Platz. Auf einem der Flyer im Gezi-Park war zu lesen: „Iktidar hayatı hedef aldığında, hayat direniş olur / Wenn die Herrschaft leben angreift, wird das Leben zum Widerstand.“
In Besiktas begannen die Auseinandersetzungen um circa 18Uhr und wieder einmal wurden in den Straßen im Bezirk Barrikaden errichtet. Der Polizeieinsatz und dessen Brutalität war viel stärker als die Nacht zuvor. Nach einigen Stunden exzessivem Einsatz von Tränengas drängte die Polizei die Leute in die inneren Straßen des Bezirks zurück. Sie warfen Tränengasbomben in die Straßen und verfolgten die flüchtigen Protestierenden. Sie zielten auch auf Häuser, Geschäfte und Cafés. Anwohner und Besitzer von Geschäften zeigten sich komplett solidarisch mit den Demonstranten und öffneten ihre Türen für die vor der Polizei flüchtenden Menschen. An vielen geheimen Stellen wurden Menschen mit Erste Hilfe versorgt. Die Auseinandersetzungen flachten nach 1Uhr ab zogen sich aber bis 5Uhr morgens fort. An einem Zeitpunkt in der Nacht in der Nähe des Inönü Stadions im Bezirk Besiktas nahmen einige Aufständische einen Bagger unter ihre Kontrolle und benutzten diesen um die Polizei in die Flucht zu schlagen. Um ungefähr 3Uhr nachts gab es wieder einen massiven Angriff der Polizei und dieses mal wurden mehrere Menschen festgenommen.
Hier ein paar weitere Parolen aus den Straßen:
‘Tayyip’in piçleri, yıldıramaz bizleri / Bastarde von Tayyip, ihr könnt uns nicht erschrecken“, ‘bu daha başlangıç, mücadeleye devam“ / das ist nur der Anfang, den Kampf fortsetzen“, aber auch ‘hepimiz Mustafa Kemal’in askerleriyiz / wir sind alle Soldaten von Mustafa Kemal“ (unglücklicherweise sehr oft von Partioten/Kemalisten und anderen skandiert).
Am späten Abend des 2. Juni schätzten viele die Anzahl der Festnahmen auf 1.700 von 235 Demonstrationen in über 67 Städten überall in der Türkei. Über 900 Menschen wurden in Ankara festgenommen (viele von Ihnen werden in einem städtischen Stadion festgehalten). Tatsächlich weitete sich der Protest auf zahlreiche Städte aus; Izmir war in Flammen und Ankara sah ausufernde Auseinandersetzungen in den letzten Tagen. Anscheinend benutzte die Polizei in Ankara sogar scharfe Munition. Ein Video von den Momenten in denen ein junger Mann von den Bullen in den Kopf geschossen wurde.
Es gibt einen kritischen Mangel an Blutkonserven in den lokalen Krankenhäusern, weil Hunderte verwundet sind und sich Operationen unterziehen müssen. Also rufen die Widerständischen die Leute dazu auf, Blut zu spenden.
Zum Glück ist die junge Frau, die am 31. Mai am Kopf von einer Tränengasbombe getroffen wurde am Leben. In der Nacht des 2. Juni erreichte uns die Nachricht, dass sie ihre Hand bewegen kann. Sie ist aber immer noch bewusstlos; ihre Schädeldecke hat einen Riss.
Es ist mit Sicherheit sehr schwer, den Überblick über die rebellischen Aktionen und die repressiven Situationen im Gebiet, das vom türkischen Staat kontrolliert wird, zu behalten. Wir haben außerdem kein klares Bild in Bezug auf die Anwesenheit von nationalistischen Arschlöchern in den verschiedenen Menschenmengen. Was die Polizisten betrifft; sie benutzen exzessiv Gummigeschosse, alle Arten von Tränengas und Schockgranaten, setzen Schlagstöcke ein, greifen mit Wasserwerfern an und teilweise mit echten Schusswaffen. Außerdem lässt die türkische Regierung eine stetig wachsende Anzahl an Antiriot-Einheiten los und setzt parastaatliche Schläger und Zivibullen in den Straßen ein. Die Ebenen der Polizeigewalt zeigen sich in den Videoberichten vom 1.6., indem ein weiterer Protestierender von einem Polizeipanzer angefahren wurde. Schaut euch an, wie Tränengas direkt in ein Haus durch die Fenster geworfen wurde. Für eine Dokumentation der Polizeigewalt könnt ihr auch Delilim var (“Ich habe den Beweis”) besuchen.
Laut dieses Fotoberichtblogs “ist die orange/rote Flüssigkeit von mehreren Quellen als Mix aus CS und oranger oder roter Farbe (unterschiedlich in den verschiedenen Stadtgebieten) bestätigt worden, die dazu dient, die Protestierenden für eine spätere Identifikation zu markieren. Es muss klargestellt werden, dass es kein Agent Orange ist, wie in Gerüchten vielfach verbreitet wurde. Agent Orange ist farblos und wurde nach den orangenen Streifen auf den Fässern, in denen es verschifft wurde, benannt.”
Die Flüssigkeit, die sie mit den Wasserwerfern verschießen ist manchmal gelblich, manchmal von rötlicher Farbe. Das gelbliche hat denselben Effekt wie Tränengas, die Menschen fühlen, dass ihre Haut brennt.
Die Protestierenden wehren sich trotzdem und schlagen zurück (siehe z. B. das Video, indem einige in einem spontanen Gegenangriff die Polizeischilde konfiszieren).
Weltweit fanden Soliversammlungen statt, quer durch Deutschland, in den Niederlanden, dem UK, Spanien, Frankreich, Griechenland, auf Zypern, von New York bis Buenos Aires…
Hier sind einige Parolen die in der Stadt Ioannina (Griechenland am 2.6.) während einer Solidaritätskundgebung in Sprechchören gerufen wurden: “In Griechenland, der Türkei, Albanien sind die Banken und Ministerien der Feind. / In Schweden, Griechenland, der Türkei werden Riots zur Realität, sie sind nicht nur eine Utopie. / Plätze der Türkei, Berge von Mexiko, Revolten werden bald überall ausbrechen. / Grenzen sind für uns bedeutungslos; vernichtet den Faschismus in Griechenland sowie der Türkei. / Sei es in Griechenland oder der Türkei, die Antiriot-Mannschaften und die Militärherrschaft sind dieselben. / Weder mit der Polizei noch der Armee, Taksim wird kein Geschäftszentrum werden. / Die Rebellion findet nicht nur wegen eines Platzes statt; Projektile können die Freiheit nicht töten. / Die Rebellion wird auf jedem Platz stattfinden; Freiheit kann nicht durch Kugeln getötet werden.”
Währenddessen wurde in Griechenland der 24-jährige Bulut Yayla (politischer Flüchtling aus der Türkei) buchstäblich in Athen von Agenten der Polizei und des Geheimdienstes entführt. Er wird zurzeit in der Anti-Terrorismusabteilung von Istanbul gefangen gehalten. Infos auf Englisch findest du hier (auf Griechisch hier).
Du kannst originale Flyer, Plakate oder Texte von den Riots in der Türkei an contrainfo[ät]espiv.net schicken, sofern du welche hast. Dateien können auch an verschiedene anarchistische/libertäre Gruppen, die du kennst geschickt werden, damit sie gedruckt und an den Wänden anderer Städte verklebt werden können.
Unbearbeitete Übersetzungen des Livetickers aus der Türkei werden auf linksunten veröffentlicht
Übersetzer_innen für Türkei-Newsticker gesucht
Weitere Infos/Links: 1, 2, 3, 4